Das Marmorbild von Joseph von Eichendorff erschien erstmals im Jahre 1819, in der Epoche der Romantik. In der romantischen Märchennovelle geht es um einen jungen Mann namens Florio, der in der in den Zwiespalt zwischen zwei Frauen gerät. Die Venus, eine der beiden, verkörpert die makellose Schönheit und versucht ihn mit Lust zu verführen. Sie ist eine lebendig gewordene Statue und gibt dem Werk den Namen «Das Marmorbild». Bianka, die andere, steht hingegen für die Unschuld und das Gute. Florio will sich aus Sehnsucht der verführerischen Venus hingeben, kann sich schlussendlich aber fassen und heiratet Bianka. Das Werk beschreibt einen alten, allgegenwertigen Konflikt zwischen Lust und Unschuld und zeigt auf, wie sich Florios Ansichten entwickeln und wie und wieso er zu seiner Entscheidung kommt, Bianka zu heiraten. Eine detaillierte Inhaltsangabe können Sie sich im Podcast anhören. «Inwiefern lässt sich das Werk mit dem Strukturmodell der Psyche von Sigmund Freud in Verbindung bringen?» Mit dieser Interpretation versuche ich diese Frage zu beantworten, wenn gleich es nicht möglich sein wird, sie objektiv zu klären. Was dem Werk letztlich tatsächlich zu Grunde liegt, werden wir wohl nie ganz genau wissen können, wobei das auch etwas Gutes sein kann. Denn erst die individuellen Interpretationsansätze machen ein Werk zu dem was es ist und gäbe es nur einen Weg, es zu verstehen, würde es sich kaum lohnen, irgendeine Geschichte zu lesen. Zu Beginn würde ich gerne erklären, was das Strukturmodell der Psyche ist und was es umfasst. Das Strukturmodell der Psyche ist schlichtweg eine Vereinfachung oder eine Verallgemeinerung des Verhaltens und des Umfeldes einer Person. Es lässt sich sowohl auf reale als auch fiktive Personen oder Figuren anwenden, ich werde von nun an aber von Figuren sprechen, da ich das Modell hier bezogen auf fiktive Personen im Werk beziehe. Laut dem Modell gibt es rund um eine Figur 3 Instanzen: Das Ich, das Über-Ich und das Es. Diese drei bestimmen in ihrem Zusammenspiel das Verhalten und die Entscheidungen einer jeden Figur. Beim Ich handelt es sich um die Figur selbst, also ihre Art zu denken, ihre Wahrnehmung, Intelligenz usw. Das Ich könnte man meiner Meinung nach mit dem rational Denkenden Intellekt des Menschen vergleichen. Das Es bezeichnet in diesem Modell die Triebe der Figur. Unter diese Rubrik fallen bspw. Lust, Verlangen, Liebe aber auch Rachsucht, Hass u. Ä. Das Es ist somit der dunkle Teil unserer Persönlichkeit, dem wir verfallen, wenn wir ihn nicht kontrollieren können. Für eben diese Kontrolle sorgt die dritte Instanz, das Über-Ich. Unter dem Über-Ich versteht man bei diesem Modell die verankerten moralischen Vorstellungen, Hemmungen, Normen, Vernunft – alles, was die Figur und die Gesellschaft als «Das Richtige tun» bezeichnen würden. Die beiden Gegenüberstehenden Parteien des Es und des Über-Ichs kann man sich vorstellen wie das Engelchen und das Teufelchen, die je auf einer Schulter des Ichs sitzen und ständig darum zanken, die Kontrolle über das Ich zu übernehmen. So, wie sich das Gleichgewicht der beiden einpendelt, steht die Figur schlussendlich nach aussen hin da, so verhält sie sich und so wird es von anderen wahrgenommen. Es wird hier also entschieden, ob die Figur als ein von de Normen der Gesellschaft bestimmter guter oder schlechter Mensch ist. Das Modell ist schlussendlich sehr allgemein und vergleichsweise einfach. Ich wage zu bezweifeln, dass sich etwas so Komplexes wie die Menschliche Psyche in 3 doch so simple Teile aufspalten lässt. Allerdings hatten wir alle bereits diese Momente, in denen wir hin- und hergerissen waren, ob wir etwas tun sollten oder nicht. Es ist erstaunlich, wie sich das Strukturmodell der Psyche auf das Marmorbild anwenden lässt. Ich versuche also die drei Instanzen im Werk wiederzufinden. Ausgehenden von der Hauptperson Florio aus, ist er selbst das Ich. Das Werk beschreibt mit wenigen Ausnahmen seine Sicht der Dinge und gibt seine Wahrnehmungen wieder. Der Hauptkonflikt im Werk ist, dass Florio hin- und hergerissen ist zwischen der Venus und Bianka. Das Über-Ich sagt ihm, er solle sich für Bianka entscheiden, das sei die vernünftigere Entscheidung. Aus tiefster Sehnsucht und seiner (sexuellen) Lust heraus, will sich Florio jedoch der Venus hingeben. Das Es sagt ihm also, er solle sich für die Venus entscheiden. Dieser Zwiespalt ist der Hauptaspekt des Werkes. Die Entscheidung zwischen Bianka, dem Abbild der Unschuld und der Gutmütigkeit und der Venus, die versuch Florio mit Lust und Verlangen zu verführen. Wir wissen, dass am Ende die Vernunft über die Lust und somit das Über-Ich über das Es triumphiert hat. Die Kernaussage des Werkes ist also kurz gesagt, dass wir uns nicht verleiten lassen und das Gute suchen sollen. Hier spielt auch christlich religiöser Aspekt mit hinein, denn das Werk versucht einen somit vor Sünden zu bewahren. Dazu zählt z. B. dass man keinen Sex vor der Ehe haben darf. Florio verspürte definitiv sexuelle Lust für die Venus, konnte dieser aber widerstehen und so sollten wir es alle können und tun. Um zum Modell von Freud. Interessant wird dieses im Zusammenhang mit dem Werk erst, sobald man bemerkt, dass man alle Figuren in der Geschichte einer der Instanzen zuordnen kann. Das Über-Ich und das Es verlassen also Florio und werden zu Personen im Werk. Die Zuordnung scheint, sobald man dies einmal bemerkt, relativ naheliegend. Florio bleicht das Ich. Fortunato, Pietro und insbesondere Bianka stellen das Über-Ich dar. Sie raten Florio zur Vernunft oder versuchen ihn zu dieser zu leiten – genau so, wie es das Über-Ich im Kopf tun würde. Für das Es steht die Venus, die an Florios Triebe allzu genau verkörpert. Seine Triebe sehnen sich nicht nur nach ihr, sie ist das Abbild seines Verlangens. Donati hilft Florio an die Venus heranzukommen und führt ihn in den Schatten der Lust. Er kann also ebenfalls dem Es zugeordnet werden. Das Zusammenspiel zwischen den Figuren kann also als ein grosses Modell der Psyche angesehen werden. Es ist bemerkenswert akkurat, es scheint fast, als hätte sich der Autor das Modell zum Vorbild genommen und eine Geschichte danach geschrieben. Sigmund Freud entwickelte das Modell aber erst im 20. Jahrhundert, ca. 100 Jahre nach der Erscheinung des Marmorbildes. Handelt es sich hier um einen Zufall? Oder beschreibt das Modell die Psyche doch besser, als ich erwartet hatte? Diese Fragen werde ich wohl nie beantworten können. Ich halte es jedoch auch für möglich, dass Freud das Marmorbild in den Aufbau seines Modells hat mit einfliessen lassen. Abschliessend kann man, dass sich dieses Modell sehr gut auf das Werk anwenden lässt. Auch die Frage, ob es sich bei dem Zusammenspiel der Figuren nicht nur um ein Modell Florios Psyche handelt, sondern von der des Autors, ist einen Gedanken wert. Das Verhalten der Figuren ist so simpel und doch so komplex, dass es durchaus möglich wäre, dass Eichendorff in diesem Buch einen ähnlichen Konflikt aus seinem eigenen Leben hat mit einfliessen lassen. Mein Fazit ist, dass das Buch stark zum Nachdenken und Interpretieren anregt und viele Verständnisansätze bietet, was schlussendlich das Wichtigste ist, wie zu Beginn dieses Textes gesagt. Es gibt keine richtigen oder falschen Ansätze und so versteht jeder das Werk so, wie es für ihn stimmt.